Keiner weiß, wer Schuld hat, dass diese drei Tage so berührend waren.
In Wisconsin nennt man ungepoppte Maiskörner „Alte Jungfern“. Wisconsin ist ein „Swing State“, kein besonders musikalischer, obwohl man das vielleicht denken könnte. Hier taumelt die Vernunft, wie an vielen Orten unserer Zeit, „Anderswo ist nicht weit von uns.“
Jeff Bezos kauft die „Washington Post“, Elon Musk „Twitter“, Despoten ertrinken in Testosteron. Mann nimmt gewaltigen Einfluss, auf Erzählung, Wirtschaft, Politik, die Menschheit. Gut in der Schule kann manchmal auch gefährlich werden, der Armageddon als Schlacht einer verzweifelnden Herrschaft. Wir werden gerade Zeugen eines surrealen Theaterstücks überlaufender Narzissten, dem Finale der Männlichkeit. Ein entfesseltes Computerspiel transformiert sich in unsere analoge Echtzeit, zeugen, jagen, gewinnen, wie ein endloser Fiebertraum. Das darwinistische Prinzip kümmert sich um den Klimawandel, die Geschlechter stehen sich ratlos gegenüber, eine rückwärtsgewandte Welt prallt auf eine progressive Zukunft. Versteckt unter dem Klinker weltanschaulicher Gesinnungen und verwirrter Glaubensbekenntnisse, Aberglauben als Überreaktionen einer zersplitterten Angst, die Wiedergeburt des starken Mannes. Die Schöpfungsgeschichte geht anders, Frauen und Kinder wollen das nicht mehr.
„Der tödliche Schlag“, ein älteres Lied von Gisbert zu Knyphausen, feiert in den herbstlichen Tagen in Südtirol seine Wiederauferstehung, mit Chor und der musischen Fruchtbarkeit der Zuversicht. Das, was mir so schwer fällt zu sagen, über diese vergangenen Tage des Kaltern Pop Festivals, steckt auch in diesem verstörend traurigen, fantastischen Lied, in unserer Zeit, in der Tatsache das musikalische Zusammenspiel nicht verschraubt und genagelt sein darf, dass es sich gelassen in vertraut aufregende Verbindungen spielt, sich hält und gehen lässt, wie eine pulsierende Beziehung.
Alle mit Allem in Berührung bringen, ob Töne, Skulpturen, Menschen, Träume, Sehnsüchte und die filmischen Erzählungen aus Wien, Palermo und der Provence, mit der Italien Premiere von „Der Palast des Postboten“. Der Film erzählt von einer Geschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, von unaufhörlichen Schicksalsschlägen eines Landpostboten in der Nähe Lyons. Mit seinen täglichen 30 Kilometer Wanderungen durch diese wunderschöne Landschaft im Süden Frankreichs, entzieht er sich diesem Albtraum Schritt für Schritt, aus der Ohnmacht wieder ins Tun, ins Blau, in die Wirksamkeit, in das Leben, mit dem Spiel um die Ewigkeit. Er tritt in Resonanz mit der Schönheit der Natur, erkennt Muster, Melodien und türmt sie zu seinen eigenen, flüchtenden Fantastereien auf, mit Hand und Fuß.
Ein stolzes „Bravo“ ruft die Sopranistin Bettina dem Sizilianer Fabrizio, nach großer musikalischer Hingabe, entgegen. Einen Tag zuvor brillierte sie selbst, als Teil des „Duo Udite“, mit frivoler Prosa aus dem Barock im tausendjährigen Weinkeller. Diese atmosphärische Summe aus Orten, Leidenschaft und Kunst, bilden den Kern einer in uns wachsenden Faszination des Außergewöhnlichen. „Sophies Kinder“, der musikalische Frühling der Schweiz, zieht seine erfrischenden Kreise auf den Bühnen und Ansitzen des Dorfes, Staffelhölzer wie Geigen, zuhören wie erzählen, so einig ist man sich selten.
Wir sind überall und nirgends, irren medial durch diese Welt, an jedem Ort und zu jeder Zeit. Clevere Menschen haben uns so programmiert, dass wir stetig nach ihr fragen und es zulassen, gut informiert kleiner und mutloser zu werden. Wir haben es aus den Händen gegeben.
Die Kunst fegt unsere Nervenbahnen, poliert sie aber nicht, trainiert Vorstellungskraft, Fantasie, Geduld und den Mut zur Veränderung. Gerade in den Grenzbereichen wuchert die Kreativität, überwindet die Einschränkung, gedeihen Empathie, Toleranz und Respekt. Die Perspektive des anderen, unter der humanistischen Prämisse, betritt den Moment und verwandelt all unsere roten Ampeln, ausgefallenen Züge, Willkür und anstandslosen Groß- und Kleinigkeiten, in geduldige Erträglichkeit, denn sie sind da, die Melodien von Landschaft, Poesie, Tönen und Persönlichkeiten, sie tragen und resonieren mit uns, wenn wir sie aufmerksam suchen, werden wir finden.
Festivals wie Haldern und Kaltern wissen am Ende nicht wer schuld ist an diesem bezaubernden Zusammenspiel von Sehnsüchten, Kraft und Visionen. Thomas Kühnapfels polierte Stahl-Skulpturen spiegeln diese Energie in alle Richtungen, an die sinnlichen Orte, speichern unsere wohlwollende Unruhe, um sie zu teilen.
Wie wenig viel, wie laut das Leise sein kann, ein stilles Glück.
Die Zukunft ist klein.
Stefan Reichmann
Haldern & Kaltern Pop
Foto: Matthias Morandell